An der EM-Euphorie muss Julian Nagelsmann noch ein bisschen arbeiten. »Es gab interessante Spiele, aber es gab auch einige langweilige Spiele«, hat der Bundestrainer die erste Turnierwoche am Dienstagabend vor der Presse zusammengefasst. Ein ungeheurer Verdacht keimt auf: Sollte dies etwa ein ganz normales Turnier werden?
Für die Stimmung im Lande ist Nagelmanns Elf maßgeblich mitverantwortlich. Am Mittwoch soll daher die zweite Stufe gezündet werden, wenn es in Stuttgart gegen Ungarn (18 Uhr, Liveticker SPIEGEL.de) geht. Nach dem 5:1-Auftakt gegen Schottland ist das Selbstbewusstsein entsprechend. Nagelsmann sagt, man sei »sehr gut vorbereitet«, man wisse genau, wie die Ungarn spielen.
Damit Sie ebenso gut vorbereitet sind wie der Bundestrainer, gibt es hier die wichtigsten Informationen zum Spiel am Abend.
Das gute Omen: Die Bilanz gegen die Ungarn ist positiv – so gerade noch. In 37 Partien hat die DFB-Elf 13 Siege herausgeschossen, zwölfmal gab es ein Unentschieden, und zwölfmal hat die deutsche Auswahl verloren. Erst einmal nur schnöde Zahlen, aus denen jedoch ein Spiel auf ewig herausragen wird. Vor 70 Jahren schoss Helmut Rahn aus dem Hintergrund, Toni Turek war ein Teufelskerl, und der Regen prasselte unaufhörlich nieder. Deutschland wurde erstmals Weltmeister, das Wunder von Bern. Dagegen war das Sommermärchen ein Klacks. Für den heutigen Abend sagt der Wetterdienst voraus, es bleibe trocken. Kein Fritz-Walter-Wetter.
Das schlechte Omen: Das zweite Turnierspiel einer deutschen Mannschaft ist häufig dann ein Problem gewesen, wenn der Start geglückt war. 2008 1:2 gegen Kroatien und Rot für Bastian Schweinsteiger, 2010 0:1 gegen Serbien und Rot für Miroslav Klose, 2014 2:2 gegen Ghana immerhin ohne Rot, 2016 0:0 gegen Polen. Bei all diesen Turnieren hatte die DFB-Elf das erste Spiel gewonnen. Wie jetzt auch. Nach 2016 hat die DFB-Elf diesen Fluch mit einem simplen Trick durchbrochen: Sie haben einfach ihr Auftaktspiel verloren.
Wer sind die Stars beim Gegner? Im ungarischen Team dreht sich vieles um den Kapitän. Dominik Szoboszlai ist beim FC Liverpool zum internationalen Star aufgestiegen, was er konnte, hat er zuvor schon dem Bundesliga-Publikum bei seinen zwei Jahren in Leipzig bewiesen. Die EM-Auftaktpartie des Teams gegen die Schweiz hat allerdings auch die damit verbundene Schwäche aufgedeckt: Das Spiel ist auf Szoboszlai zugeschnitten, der 23-Jährige wollte gegen die Schweizer fast alles selbst machen. Das geht selten gut, auch diesmal nicht, das Spiel ging 1:3 verloren.
Das ungarische Team ist eine Bundesliga-Filiale mit den zwei Freiburgern Attila und Roland Sállai, den zwei Leipzigern Willi Orbán und Torwart Péter Gulácsi, András Schaefer von Union Berlin und Márton Dárdai von Hertha BSC. Eine erfahrene Mannschaft mit dem Lieblingsetikett »unangenehmer Gegner«.
Wer ist besser in Form? Die Ungarn haben eine souveräne Qualifikation absolviert, blieben gegen Serbien, Bulgarien, Island und Montenegro ungeschlagen. Schon im Testspiel gegen Irland vor der EM schwächelte die Mannschaft, und gegen die Schweiz habe man »Kinderfußball« gespielt, wie Szoboszlai danach schimpfte. Dagegen strotzt die DFB-Elf vor Selbstvertrauen nach dem 5:1 über die Schotten. Ungarn, das ist aber hoffentlich allen klar, ist ein anderes Kaliber als Schottland.
Ein Hauch von Wehmut: Das Abschiedsspiel von Bundestrainer Helmut Schön einst 1978 war ein 0:0 gegen Ungarn. Das vorletzte Spiel von Bundestrainer Joachim Löw war ein 2:2 gegen Ungarn. Julian Nagelsmann spielt in jedem Fall anschließend noch gegen die Schweiz. More to come.
Der Faktor Stuttgart: Das Publikum in Stuttgart ist das vermutlich beste der Welt – in der Leichtathletik. Die WM 1993 war ein einziges großes Fest. Gail Devers, Michael Johnson, Sergej Bubka, Heike Drechsler, Javier Sotomayor, Mike Powell, rauschhaft bejubelt, die Leichtathletikwelt zu Gast bei Freunden. Das Stuttgarter Publikum bekam anschließend den Fairness-Preis der Unesco. Aber auch die Fußballer können nicht meckern: Das Spiel um den dritten Platz bei der WM 2006, jenes 3:1 über Portugal mit zwei Schweinsteiger-Toren und einem Eigentor, war so etwas wie der emotionale Höhepunkt einer an emotionalen Höhepunkten reichen Heim-WM. Der DFB und Stuttgart, das hat eine lange Geschichte. Das erste Länderspiel nach dem Zweiten Weltkrieg wurde hier ausgetragen, ein 1:0 über die Schweiz vor 102.000 (!) Zuschauern. Elfmetertor, Herbert Burdenski, 42. Minute.
Der Schiedsrichter: Der Niederländer Danny Makkelie gehört zur Prominenz der Schiedsrichter-Gilde. Und Prominenz hat immer die Versuchung der Arroganz als Begleiterin. Der 41-Jährige hat in der Vergangenheit daher schon mehrfach den Unmut von Fans und Spielern auf sich gezogen. BVB-Boss Hans-Joachim Watzke schimpfte 2023 nach der Champions-League Partie gegen den FC Chelsea: »Man hatte immer das schlechte Gefühl, dass er der wichtigste Mann sein wollte.« Ein Watzke an sich vertrautes Gefühl.
Auch Julian Nagelsmann hat seine speziellen Erfahrungen mit Makkelie schon gemacht. Nach einem 0:1 von RB Leipzig, damals von Nagelsmann trainiert, gegen Paris Saint-Germain nannte er die Leistung des Referees »traurig«. Traurig ist allerdings auch die DFB-Erfolgsbilanz bei Turnieren, wenn der Niederländer pfiff: das Achtelfinal-Aus gegen England und das Remis in Katar gegen Spanien. In beiden Fällen war der Schiedsrichter aber nicht schuld daran.
Der Störenfried: Deutschland gegen Ungarn in der Gruppenphase, das gab es auch beim vergangenen EM-Turnier. Und damals spielte das Sportliche im Vorfeld nur die Nebenrolle. Der angekündigte Stadionbesuch von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und eine Debatte darum, ob man die Münchner Arena nicht in Regenbogen-Farben illuminieren könne, um ein Zeichen für Diversität und gegen die hom*ophobe Gesetzgebung Orbáns in dessen Heimat zu setzen. Die Uefa wollte das erwartungsgemäß nicht, das Land hatte wieder ein Thema, über das es sich ein paar Tage lang aufregen durfte.
Fußball wurde überraschenderweise auch noch gespielt. Leon Goretzka rettete nach unwiderstehlicher Vorarbeit von Jamal Musiala mit seinem späten Ausgleich zum 2:2 das Weiterkommen der DFB-Elf und zeigte den marodierenden Ungarn-Ultras hinter dem Tor anschließend das Herz als Symbol der Liebe. Für das Gruppenspiel am Abend hat der Ministerpräsident auch diesmal seinen Besuch angekündigt, an seiner Seite wird Bundeskanzler Olaf Scholz sitzen. Man wünschte sich Leon Goretzka, aber der ist nicht dabei.
Der Favorit: Die Ausgangssituation ist eindeutig. Ungarn steht unter Druck, Deutschland beschwört die EM-Euphorie, die Vorzeichen sind also gesetzt. Andererseits ist das Team von Nationaltrainer Marco Rossi so etwas wie der Angstgegner des DFB-Teams. Die bisher letzten drei Partien endeten 2:2, 1:1 und 0:1 aus DFB-Sicht, ohnehin hat Deutschland von den vergangenen zwölf Duellen mit Ungarn nur drei für sich entschieden. Trotzdem: Der Favorit heißt Deutschland. Ungarns Trainer Marco Rossi sagt, sein Team müsse »das perfekte Spiel abliefern«, um eine Chance zu haben.
Wo ist das Spiel zu sehen? Die ARD überträgt mit Livekommentator Tom Bartels, der es sehr bedauern wird, dass logischerweise kein deutscher Schiedsrichter die Partie pfeifen darf. So muss er seine Elogen stattdessen auf die deutsche Mannschaft übertragen, es wird ihm gelingen. Bei MagentaTV sind Wolf Fuss und Lothar Matthäus am Start. Sie werden der ungetrübten Jubelstimmung wegen die Weltklasseleistungen der deutschen Stürmer besonders hervorheben. Sandro Wagner, der eifrige Nagelsmann-Assistent, dürfte auf der deutschen Bank mithören.
Wie gehts aus? Mit einem zweiten Sieg könnte Deutschland fürs Achtelfinale planen und sich schon mal dem Unterfangen widmen, ein Hotel für den dann wahrscheinlichen Spielort Dortmund zu buchen. Es könnte sein, dass dies noch schwieriger werden wird, als die Ungarn zu schlagen.
