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| Lesedauer: 4 Minuten
Von Manuel Brug
Freier Feuilletonmitarbeiter
Der englische Kritiker Norman Lebrecht hält die Industrie der klassischen Musik für eine sterbende Branche: Die Gier ist raus
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Nein, dieses Buch über die klassische Schallplattenindustrie, gleichzeitig in England, Amerika und Deutschland veröffentlicht, ist kein Aufreger geworden. Dabei hätte man solches von Norman Lebrecht, der meist schlecht gelaunten Krawallschachtel unter den Musikjournalisten, eigentlich erwartet. Schließlich ist sein in diversen englischen Zeitungen und einer Internet-Kolumne herunter gebetetes Thema seit Jahrzehnten das gleiche: der Untergang der klassischen Musik durch ihre bis ins Mark korrupten und meist ziemlich unsympathischen Leitfiguren.
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Erst zerstörte Norman Lebrecht, der eine Unmenge von oft schmutzigen Details auffährt, es aber mit den Fakten nicht immer genau nimmt, 1991 den "Mythos vom Maestro". Das war ein böses, aber wichtiges Buch, das endlich einmal hinter die Kulissen des Klassikbetriebs blickte und so manchen der strippenziehenden Pultgiganten als ziemlich kleines Würstchen erscheinen ließ. Dann blies der Totentrompeter 1996 wieder ins Horn ("When the music Stopps...Manager, Maestros and the Corporate Murder of Classical Music"). Lebrecht hatte diesmal sein Thema ausgeweitet auf den Konzertbetrieb und die Plattenindustrie, seine Kritik noch einmal verschärft und seinen Pessimismus ebenso. Ein ähnliches Buch hatte 1990 in Deutschland der "Spiegel"-Journalist Klaus Umbach mit seiner "Geldscheinsonate" versucht, doch wo Umbach zu viel polemische Locken auf der Glatze drehte, da fächerte Lebrecht ein breites Panorama aus Lug und Trug, Eifersucht und Angst, Macht und Unvermögen auf. Das freilich änderte nichts an der Tatsache, dass er die C-Dur-Welt zu mollschwarz sah.
Sicher, die fetten Jahre des großen Gelddruckens sind vorbei, aber immer noch ist der klassische Musikbetrieb für viele der Beteiligten eine einträgliche Branche. Dirigenten können mit einem kleinen Repertoire erstaunliche Karriere machen, fast alle sind Meister der Mehrfachverwertung. Sicher, die großen Überfiguren fehlen, die Karajans, Bernsteins, Soltis, Kleibers - aber ist das in der zunehmend kurzatmigeren Politik, in der auf größtmöglichen Gewinn fixierten Wirtschaft anders?
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Dass sich der Klassikbetrieb selbst kannibalisiert, weil keine mehrheitsfähigen zeitgenössischen Komponisten das Repertoire bereichern, während etwa die junge bildende Kunst glamourös boomt, das streift Norman Lebrecht in seinem neuen Buch "Ausgespielt. Aufstieg und Fall der Klassikindustrie" nur am Rand. Er beschränkt sich auf das anekdotenhafte Nacherzählen vom Anfang der Klassikindustrie mit den Tenor-Zuckerln von Enrico Caruso, eingespielt 1901 in einem Mailänder Hotel, bis zum brutalen Verdrängungs- und Schrumpfungsprozess der teilweise mafios agierenden vier übrig gebliebenen Großlabels Universal (Deutsche Grammophon, Philips, Decca), EMI, Warner und Sony (CBS)/BMG (RCA) ab 1995.
Lebrecht schreibt eine sattsam bekannte, mit keinen neuen Details aufwartende, lediglich an Personen aufgehängte Industriegeschichte der Gattung. Er gibt der ganz neuen, etwa von so unterschiedlichen Figuren wie Karajan oder Glenn Gould vorangetriebenen, als Kunstform erkannten manipulativen Studioästhetik keinen Raum; genauso wenig wie er anerkennen will, dass die Klassikindustrie immer noch lebt. Sicher, das Repertoire ist mehrfach eingespielt und Verfügbares, Neues entsteht nur noch als Nischenprodukt oder grässliches Crossover. Auch finanziell ist die CD nur noch ein Zusatzgeschäft für die Künstler, nicht mehr deren Haupterwerb. Trotzdem gelingen etwa der Deutschen Grammophon mit aggressiv beworbenen, international verfügbaren Medienstars wie Anna Netrebko, Rolando Villazón oder Lang Lang Megaumsätze.
Lebrecht analysiert zwar in einem zweiten Buchteil überflüssigerweise und hemmungslos subjektiv die 100 besten und die 20 überflüssigsten Aufnahmen. Er interessiert sich aber nicht für die erwachenden asiatischen Märkte und die Reaktion der europäisch und amerikanisch gesteuerten Konzerne darauf. Er geht nicht darauf ein, dass eine jüngere, pragmatischere Generation von Interpreten wie Kunden die CD trotzdem noch als tönendes Abbild und Ewigkeitsabsicherung heutiger Klassikkünstler schätzt. Er bezieht das Internet und die digitalen Medien kaum ein, den Siegeszug etwa der Opern-DVD, die die herkömmliche Studioproduktion weitgehend abgelöst hat, erwähnt er nicht einmal. Er spürt auch nicht dem Phänomen nach, warum nach den als Schwanengesang empfundenen luxuriösen sinfonischen Beethoven-Zyklen Abbados, Barenboims und Rattles aktuell mehr als zehn Zyklen in Orchesterarbeit sind, warum sich nicht nur András Schiff und Paul Lewis dem gesamten Sonatenwerk auf CD stellen, warum etwa ein Matthias Goerne gerade einen Vertrag über elf Schubert-CDs abgeschlossen hat. Die Gier ist raus aus dem Gewerbe das ist richtig. Aber es wird - anders, kleiner, bescheidener - weitergehen. Mit Norman Lebrecht als ewigem Untergangs-Sinfoniker.
Norman Lebrecht: Ausgespielt. Aufstieg und Fall der Klassikindustrie. 276 S., SchottMusic, Berlin 2007. 19,95 Euro